#4 – Wajera „Und es erschien“
1.Mose 18,1 – 22,24; Lk 16-20; Psalm 113+114+115; Hiob 32-42
Letzte Woche haben wir uns mit einem Beispiel für eine chiastische Struktur angesehen, die in ihren Aussagen zu Zentrum, einer Hauptaussage, zeigt. Zu diesem Thema habe ich die Ausarbeitung der letzten Parascha „Lech lecha“ nochmals in einer Übersicht dargestellt, um den Kommentar zu verdeutlichen.
Wie Abraham und Sarai mit Hagar und Ismael umgehen, ist eine äußerst schwierige und schmerzliche Geschichte. Sarai gab Abram, ihre ägyptische Magd Hagar, zur Frau und sie wurde schwanger und „achtete ihr Herrin gering“. (1. Mose 16,4) Daraufhin demütige Sarai Hagar, so dass diese floh. Aber der Engel YHWHs ermutigte sie, wieder zu Sarai zurückzukehren. Aber dabei bleibt es nicht und es gibt kein Happy End für Hagar: sie muss mit Ismael das Haus verlassen.
Hagar wird so vorgestellt: Sarai „hatte aber eine ägyptische Magd, sie hieß Hagar.“ (1. Mose 16,1) Warum lässt uns die Torah die Nationalität von Hagar wissen? Ist das wichtig und wen interessiert das? Jetzt schauen wir uns den Kontext der Geschichte an.
Als Abram von YHWH einen Sohn verheißen bekam, hat Ihm YHWH ebenfalls vorhergesagt, dass seine Nachkommen Fremdlinge in einen Land sein werden, das nicht das ihre ist und dass man sie zu dienen zwingen wird, 400 Jahre lang. (vgl. 1. Mose 15,13) Dieses Land wird Ägypten sein. Dort werden die Nachkommen von Abraham Sklaven in einem fremden Haushalt sein. Ist das nicht interessant? Hagar ist eine Frau aus dem Volk der Ägypter und dient als Sklavin in einem fremden Haushalt, dem von Abram und Sarai. Als nun Sarai sie demütigte (1. Mose 16,6), ist das das gleiche hebräische Wort „anah“, das YHWH gebrauchte, als er das Schicksal der Nachkommen Abrams beschrieb: „man wird sie plagen „anah“ vierhundert Jahre.“ (1. Mose 15,13) Von diesem Hintergrund kommend, ist es bemerkenswert, dass die Torah uns die Nationalität von Hagar nennt: So wie die Nachkommen von Abraham im „Haushalt der Ägypter“ unterdrückt werden würden, wurde sie im Haushalt Abrahams unterdrückt.
Und was verrät uns ihr Name? Hagar (He, Gimmel, Resh) – Ger heißt Fremder. Und was kündigte YHWH Abram an? Deine Kinder werden Fremdlinge sein in dem Land, das nicht das ihre ist. (1. Mose 15,13) Und so fühlte sich Hagar auch in dem Haus von Abram, als eine Fremde, die unterdrückt wurde.
Gibt es noch mehr Zusammenhänge, Verknüpfungen zwischen beiden Erzählungen?
Da die Uneinigkeit im Hause nicht aufhörte und Ismael seinen Mutwillen mit Isaak trieb, wollte Sara diesem ein Ende setzen und sprach zu Abraham: „Treibe diese Magd aus mit ihrem Sohn …“ (1. Mose 21,10) „Da stand Abraham früh am Morgen auf und nahm Brot und einen Schlauch mit Wasser und legte es Hagar auf ihre Schulter, dazu den Knaben, und schickte sie fort.“ (1. Mose 21,14) „Sie zog hin und irrte in der Wüste umher bei Beerscheba.“ (Vers 14) Sie hatte kein Wasser mehr und warf den Knaben unter einen Strauch. Da sie erwartete, dass ihr Kind sterben würde, setzte sie sich nieder und weinte. Dann passierte ein Wunder. Der Engel YHWHs rief ihr aus dem Himmel zu: „Fürchte dich nicht; denn Elohim hat gehört die Stimme des Knaben, der dort liegt.“ (1. Mose 21,17) Und als Hagar ihre Augen öffnet, sieht sie einen Wasserbrunnen.“ (Vers 19). Und ihre Reise durch die Wüste setzte sich fort. An was erinnert uns all das?
Hagar verließ ihre Sklavendienste und kam in die Wüste. Wer verließ seinen Stand als Sklave und kam in die Wüste? Genau dies passierte dem Volk der Israeliten. Als sie den Haushalt der Sklaverei in Ägypten verließen, kamen sie in die Wüste. In beiden Erzählungen kamen sie – Hagar und das Volk der Israeliten – in Bamidbar, das gleiche hebräische Wort für Wüste. Hagar verlor ihren Weg und wanderte in der Wüste umher – und was passierte mit den Israeliten? Exakt das gleiche: „Der Pharao aber wird sagen von den Israeliten: Sie haben sich verirrt im Lande: Die Wüste hat sie eingeschlossen.“ (2. Mose 14,3)
Was widerfährt Hagar als nächstes? Sie erlebt eine „Wasserkrise“: „Als nun das Wasser in dem Schlauch ausgegangen war, …“ (1. Mose 21,15). Genau das widerfuhr auch dem Volk der Israeliten. Sie hatten kein Wasser mehr. In beiden Fällen errettete göttliches Eingreifen Hagar und die Israeliten. Und als ein Engel vor Hagar erschien, sagte er zu ihr: Fürchte dich nicht! Und dieselben Worte sagte Mose zu den Israeliten vor der Teilung des Schilfmeeres: „Fürchtet euch nicht …“ (2. Mose 14,13)
Als Hagar weggeschickt wird, legt Abraham Brot auf ihre Schultern. (1. Mose 21,14) Wann lesen wir das wieder? „Und das Volk trug den rohen Teig, ehe er durchsäuert war, ihre Backschüsseln in ihre Mäntel gewickelt, auf ihren Schultern.“ (2. Mose 12,34)
Für beide Erzählungen gilt: Unterdrückung – Ägypten – Fremder – Wüste – Verloren – Wasserkrise – Wasser – fürchte dich/euch nicht – Brot auf den Schultern – Erlösung
Sicherlich schattet die Geschichte mit Hagar und Ismael voraus, was wir wieder im Buch Exodus vorfinden. „Ich habe von Anfang an verkündigt, was hernach kommen soll, und vorzeiten, was noch nicht geschehen ist. Ich sage: Was ich beschlossen habe, geschieht, und alles, was ich mir vorgenommen habe, das tue ich.“ (Jesaja 46,10).
YHWH hat in der Torah Informationen enkodiert, die uns Zukünftiges offenbaren. Gilt die Geschichte mit der Hagar über den Exodus hinaus und weist auch auf das Ende?
„Und die Frau entfloh in die Wüste, wo sie einen Ort hatte, bereitet von Elohim, dass sie dort ernährt werde, tausendzweihundertsechzig Tage.“ (Off. 12,6) “Wer ist sie, die heraufsteigt von der Wüste und lehnt sich auf ihren Freund? (Hoheslied 8,5)